progeisteswissenschaften
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Die Wissenschaftlerin


Die Studiennachweise erlauben keine Beschönigung: 20 Semester! Dann war es nach Wechseln von Hamburg über Bochum, Aix-en-Provence und schließlich Kiel geschafft: Ohne Zwischenprüfung, ohne Staatsexamen, direkt zur Promotion. Deutsche Philologie, Romanische Philologie, »Kunstgeschichte«. Das war damals noch möglich. Strafgebühren, wie später ein Hamburger Wissenschaftssenator sie für Langzeitstudierende (Bummler?) meinte einführen zu müssen, wurden nicht fällig. Aber etwas Druck von Seiten der Professoren schon, um die Prüfung anzugehen und mit der Illusion aufzuräumen, es lasse sich als Hilfskraft im Kieler Literaturwissenschaftlichen Institut (als die ich dort schon länger mein Geld verdiente) doch ganz gut leben. Die Beurkundung der Promotion

(»Günter Grass und die "Hybris" des Kleinbürgers: "Die Blechtrommel", Bruch  mit der Tradition einer irrationalistischen Kunst und Wirklichkeitsinterpretation. Frankfurter Beiträge zur Germanistik Bd.19, Winter Universitätsverlag, Heidelberg 1979)

durch die Philosophische Fakultät der Christian-Albrechts-Universität Kiel (Summa cum laude) wurde per Post zugestellt. Ich hätte "durch die Abgabe der Pflichtexemplare am 12. März 1980 die letzten Bedingungen zur Erlangung des Doktorgrades erfüllt". Kaum mehr als zehn Jahre nach dem Protest gegen den »Muff« unter den Talaren hatte sich die ›neue‹ Universität noch nicht zu einem dem Anlass gemäßeren Ritual durchgerungen.

Studienbeginn '68

Wie tief der Kulturschock bei vielen Ordinarien saß, hatte ich damals nicht registriert. Das Grundstudium absolvierte man ohnehin bei den jungen Dozenten und Assistenten, die zu den Triebkräften der Universitätsreform zählten. Einer der ihren  - Peter Fischer-Appelt - sollte der erste Präsident der Universität Hamburg werden, der erste bundesweit, der keinen Lehrstuhl hatte, ›nur‹ einen Doktor.

Hamburg war ein aufregender und anregender Studienort (zur Geschichte der Universität s. Publikationen). Doch der Spagat zwischen alten Studieninhalten und den Vorstellungen, was alles unbedingt anders werden müsse,  war groß. Zwischen den politischen Veranstaltungen saßen wir in Seminaren, in denen die Lyrik und das Lebensgefühl der Romantik zelebriert wurden. Alt- und Mittelhochdeutsch, auch Altfranzösisch und immer wieder Übersetzungsübungen wurden pflichtschuldig absolviert. Die neuen Inhalte kamen über die Sprachwissenschaften in die Germanistik mit Seminaren zur Linguistik und zum »Neuhochdeutschen«. Die Auseinandersetzung mit Sprachtheorien löste das schulmäßige Pauken von Grammatik ab. Gefragt wurde nun auch nach dem »Sprachgefühl« von »Sender« und »Empfänger« in einer Kommunikation. Unvergessen: Die Vorlesung von einer der absolut seltenen Professorinnen,  über »Hermeneutische Interpretationsansätze«. Die war von langanhaltender Wirkung. Der große Kokoschka - Hörsaal (das Original des Thermopylae - Triptychons von Oskar Kokoscha nahm mit seinen acht Metern Breite fast die gesamte Längstwand ein) war immer überfüllt. Meine Notizen verraten die Studienanfängerin, die nicht so recht mit kam, doch tief beeindruckt war, nicht nur von den Horizonten, die sich da öffneten, auch von dieser Lehrstuhlinhaberin, die einen engen Meinungsaustausch mit den Studierenden suchte. Aus einem Zettelkasten am Hörsaal - Eingang fischte sie vor jeder Lesung Fragen, Anregungen und Kritik, die sie aufnahm.

In der Romanistik  wurden sozialkritische Akzente gesetzt mit »Les Misérables« von Victor Hugo und »Le rouge et le noir« von Stendhal. Über die Haltung der Professoren (und allgemein der Lehrkräfte) im Nationalsozialismus wurde damals nicht diskutiert. Urteile über Wissenschaftsverständnis und -methode kamen erst in den späteren Semestern in den Blick. Dafür überraschte manches unkonventionelles Handel, wenn z.B. ein Ordinarus im Museum ein Gemälde abhängte und kopfüber auf den Boden stellte. Das weitete den Blick, half später, die Aufregung über die ›auf den Kopf gestellte‹ Malerei von Georg Baselitz übertrieben zu finden. Unauslöschlich in Erinnerung aber blieb Erich Hubala, ein fachlich anspruchsvoller Ordinarius, der sich nicht scheute, die Eigeninitiative der Studierenden in der Klausur zu testen: Seine Frage nach der »Proportionslehre« von Albrecht Dürer, die zuvor nicht behandelt worden war und die noch heute selten in den Blick genommen wird, wurde nur von einer Teilnehmerin beantwortet. Leider verschwand Georg Hubala viel zu schnell aus Kiel (nach Würzburg). Doch bei Max Imdahl in Bochum gab es mit seiner Vorlesung über den Pablo Picasso der 60er Jahre ähnlich gute Erfahrungen.

Französische Kultur / Deutsche Vergangenheit

Cerisy-la-Salle, ein Schloss in der Normandie, in Privatbesitz und staatlich gefördert als ein Kulturzentrum im Geiste des Literaten  Paul Desjardin. Eine Gruppe von Studierenden der Hamburger Universität war zwei Mal dort zu Gast. Das erste Treffen (Sommer '68) wurde zu einer Lektion in Sachen verdrängter deutscher Geschichte. Das Schloss war im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen besetzt gewesen. Die kleinen Enkel des Hauses zeigten den Besuchern die im Kamin erhalten gebliebenen militärischen Planskizzen von der Umgebung und fragten ihrerseits, ob wir das Haus von "Itlèr" besucht hätten. Nein, Hitlers Haus in München hatten wir nicht besichtigt. Was uns stumm werden ließ: Mehrere der jüdischen Gäste, überwiegend Lektorinnen, Kritikerinnen und auch Übersetzerinnen, wollten mit den Deutschen kein Wort wechseln. Erst den abendlichen Konzerten unserer Musikstudentinnen und -studenten verdankten wir, dass sich der Knoten löste. Schuldgefühle?  Wäre da nicht die Erinnerung an die Schulzeit gewesen: Aus Entsetzen darüber, dass in seiner Klasse Hitler mit dem damals weit verbreiteten Argument verteidigt wurde, er habe doch die Autobahnen gebaut, hatte ein Geschichtslehrer einen Kinobesuch organisiert und die völlig unvorbereiteten, ganz und gar politikfern erzogenen Jugendlichen konfrontiert mit den grauenvollen Aufnahmen von überlebenden KZ - Insassen und den Leichenbergen, die von den Alliierten vorgefunden wurden. Ein Schock, der in das Gegenteil umschlug, statt Aufklärung eine tiefgehende Verdrängung. Erst viele Jahre  später war die Universität Hamburg eine der ersten, die ihre Zeit unter dem Nationalsozialistischen Regime in einer Ausstellung dokumentierte und mit einer umfangreichen Aufsatzsammlung aufarbeitete (Eckard Krause, Ludwig Huber, Holger Fischer (Hg.): Hochschulalltag im "Dritten Reich". Die Hamburger Universität 1933 - 1945 (Hamburger Beiträge zu Wissenschaftsgeschichte. Bd. 1 - 3, Berlin, Hamburg 1991).

Und noch einmal Cerisy-la-Salle. Den zweiten Aufenthalt an diesem Ort erlebten wir als ein Treffen mit französischen Intellektuellen und Literaturwissenschaftlern auf einem uns bis dahin unbekannten Niveau: Gekommen waren Tzvetan Todorov, Jean Alter, Gérard Genette und - als Kurzbesucher - Roland Barthes. Der Vormittag in der Bibliothek gehörte den Diskussionen über strukturalistische Erzählansätze und über Wege, die sprachliche, formale Perspektive durch eine inhaltliche zu ergänzen. Bei langen Mittagessen - très français - mit allen Gängen und dem Besten, was die Schloss-Küche zu bieten hatte, wurden die Gespräche vertieft. Der Aufenthalt führte zu einem Studienjahr in Frankreich.

Aix-en-Provence

Anders als Hamburg war die Universität Aix - Marseille im Studienjahr 1970/71 noch mit den 68'er Nachwehen beschäftigt und nicht zu einem normalen Studienbetrieb zurückgekehrt. Das gab die Freiheit, die Kenntnis der Provence (damals noch ohne »autoroute du Sud« und mit lebendigen Innenstädten, gerade in Aix) und die französische Literatur weitgehend selbstständig zu vertiefen. Die Zusammenstellung meiner Privatstudien war dem Zufall geschuldet und integrierte so unterschiedliche Autoren wie Gaston Bachelard mit seiner Phänomenologie, der »rèverie de la langue poétique«, und dem katholischen Autor Jean Pierre Jouve, dessen Prosawerk der Selbst- und Sinnsuche mich faszinierte, und nicht zuletzt Denis de Rougement mit seiner Erforschung des okzidentalen Denkens, der Tradition von »Erotisme et le mythe«, eine Lektüre, die durch psychoanalytische Studien zur Traumforschung von Freud und Jung ergänzt wurde.

Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie

Kommentar meiner südfranzösischen Freunde: Kann man ›da oben‹ - im Norden - überhaupt leben? Und lernen! Aber wie! Nun was es die Germanistik, die aufgeholt hatte, denn eine jüngere Lehrergeneration lehrte über die Geschichte und Theorie der Wissenschaft. Wieder gab es Semester mit spannenden Diskussionen und zugleich ein Aufholen in der deutschen Literaturgeschichte. Die ›Moderne‹, die deutschsprachige Literatur der (damaligen) Gegenwart und vor allem »Die Blechtrommel« bestimmten gleich das erste Kieler Semester. In dem heiß diskutierten, als Blasphemie beschimpfen Werk von Günter Grass, fand ich vieles von dem in Frankreich Gelernten wieder: Leitmotive, erotische Sprachbilder, ein transzendentales Denken, das in vielen Generationen auch die politische Analyse prägte, und vor allem fand ich mit dieser Autobiographiefiktion ein hervorragendes Objekt für einen strukturalistischen Erzählansatz, mit dem der (immer noch gängigen) Praxis, den Autor mit seinem Ich-Erzähler zu identifizieren, zu begegnen war. Dank einer Neubesetzung am Literaturwissenschaftlichen Seminar in Kiel gelang die Arbeit. Mit  Prof. Klaus-Detlef Müller war ein Experte gekommen, dessen Habilitation zum Thema »Autobiographie und Roman« (Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit. Tübingen 1976) die notwendige theoretische Basis schuf. Er wurde für mich ein akademischer Lehrer, wie man selten das Glück hat, einen zu finden. Dank der intensiven Betreuung durch ihn, der leider offiziell nicht mein ›Doktorvater‹ werden durfte, wurde meine Arbeit ein Erfolg.

In dem Zusammenhang unvergessen: Eine Lesung mit Günter Grass in Danzig im Jahr 1972. Zum ersten Mal konnte er aus der bis kurz zuvor in Polen verbotenen »Blechtrommel« lesen (mit begleitender Übersetzung). Er hatte das Kapitel »Die Polnische Post« gewählt. Es gab im Publikum Reaktionen, die berührten: Sie zeigten, wie sehr die Menschen in Danzig nach Wissen aus ihrer Geschichte hungerten, und was ihnen die Literatur bedeutete, die davon erzählte.