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L - K- Z.     Geschichte

Gemälde haben Geschichte, erzählen von Geschichte

Ein Besuch in der ALTEN PINAKOTHEK in München im Sommer 2011. Ich wurde angelockt (und enttäuscht) von der Ausstellung »Vermeer in München«, in der nur ein einziges Gemäldes dieses niederländischen Malers aus dem 17. Jahrhundert gezeigt wurde. Es war die aus Washington ausgeliehene ›Frau mit Waage‹, ein Hauptwerk Vermeers und ein kostbares Glanzstück der holländischen »Genremalerei« - so die üblichen, einem großen Teil des Publikums nichtssagenden Zuordnungen, mit denen es in der Presse – Berichterstattung bejubelt wurde.
Vor dem Original – welch eine Ratlosigkeit! Da sah man eine schlicht gekleidete Frau mit einer kleinen Waage in der Hand, in einer privaten Stube, bei verhängtem Fenster, mit wertvollem Schmuck auf einem Tisch und einem religiösen Bild im Hintergrund, einem »Jüngsten Gericht«. Das alles so klein, so dunkel, in einem Format von nur 40,3 cm x 35,6 cm. Auf dem Ausstellungsplakat auf der Straße konnte man diese Frau kurz zuvor noch in hellem Licht und in Übergröße sehen, so als gäbe es nichts als sie auf dem Gemälde.  Das warf für mich Fragen auf, die ich sonst nirgendwo gestellt fand. Im Katalog war nur von einer „Allegorie“, einem „Sinnbild der Mäßigung“ die Rede. (Markus Dekiert: Vermeer in München. König Max I, Joseph von Bayern, als Sammler Alter Meister. Hg. von den Bayrischen Staatsgemälde – Sammlungen, München 2011, S. 48)
Da hätte ich mir mehr gewünscht, zumal der Gang durch die riesigen Sammlungsbestände der ALTEN PINAKOTHEK an dem Werk von Peter Paul Rubens »Das Große Jüngste Gericht« vorbeiführte. Vor diesem Kolossalgemälde, über sechs Meter hoch und über viereinhalb Meter breit, kann einem Betrachter ein Gedanke wie der zum "Maßhalten" kaum in den Sinn kommen. Der bayrische König Ludwig I, der tatsächlich nicht gerade für Bescheidenheit bekannt ist, hatte das einst für den Altar einer katholischen Kirche geschaffene Werk erworben als Mittelpunkt für seinen „Kunsttempel“, der erst später den Namen Alte Pinakothek erhielt. Die aus einer Erbschaft auf den König überkommene »Frau mit Waage «wurde  in die erste Sammlung gar nicht aufgenommen!

Unterschiedliche Epochen, unterschiedliche Auffassungen!
Größere Unterschiede kann man sich kaum denken. Hier das Rubensche Altarbild, die Verbildlichung einer kirchlichen Lehrmeinung, eines Dogmas, mit dem sich katholische Gläubige einst konfrontiert sahen, das irgendwann ästhetisiert, in den Kanon der großen Kunstwerke der Welt gewechselt hat. Dort, bei Vermeer, das gleiche Thema, das „Jüngste Gericht“, als Kunstwerk geschaffen, aber als Detail in einem  kleinen Kabinettbild in den Hintergrund gelegt, als „Bild im Bild“, möglicherweise ein Schlüssel für die Interpretation des Gemäldes – doch welcher Interpretation, wirklich eines Appells zur Mäßigung, zur Bescheidenheit?
Spätere Personen der Zeitgeschichte haben das Rubens – Gemälde gar nicht geschätzt. Von Alexander von Humboldt wird erzählt, dass er und sein Begleiter es „nur mit Schrecken“ ansehen konnten, „unaussprechlich ekelhaft“ notierte der berühmte Naturwissenschaftler als Eindruck von den „Fleischmassen“ und er meinte damit die nackten Frauen – und Männerkörper, die sich in Richtung Paradies und in Richtung Höllenschlund bewegen (Manfred Geier: Die Brüder Humboldt. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 2009, S. 126).
Die Besucher zur Jubiläumssausstellung 2011 in der ALTEN PINAKOTHEK gingen an dem Gemälde gleichgültig vorbei. Aber auch Vermeers »Frau mit Waage« schien wenig Zustimmung zu finden. Die Verweildauer vor dem Gemälde war während meines Besuchs sehr kurz.

Man sieht nur, was man kennt – man schätzt nur, wovon man eine Vorstellung hat.
Wo greift Neugier, wann werden Fragen so wichtig, dass man sie beantwortet wissen möchte? Mich liess diese Frau mit der Waage nicht los. Ich wollte herausfinden, wie es zu dieser so ganz anderen Verwendung des religiösen Themas gekommen war, innerhalb von zwei Generationen. Rubens starb 1640 in Antwerpen, als Vermeer gerade ein heranwachsender Junge in Delft war. Beide sind Repräsentanten des sogenannten „Goldenen Zeitalters“, der niederländischen Kunst des 17. Jahrhunderts. Auf welche Bildtraditionen griff der eine, der andere zurück? Bei Rubens vermutet man Michelangelo als Vorbild, doch Vermeer? Was trieb ihn, das Motiv „Jüngstes Gericht“ aufzugreifen, welche Funktion gab er ihm im Rahmen eines Ambientes, in dem nichts so richtig zusammenpasst: Der Schmuck auf dem Tisch mit der Forderung nach Mäßigung, die schlicht gekleidete Frau mit einer Waage aus dem damaligen Kaufmannsmilieu, das Bild an der Wand, das,  seiner Funktion als Kirchenkunst enthoben, die Wand einer bürgerlichen Privatsstube bzw. den Hintergrund eines Gemäldes schmückt?

Fragen über Fragen – aber es gibt doch WIKIPEDIA!
Die online – Enzyklopädie ist ein enormer Fundus an Wissen, aber nicht mehr als eine gute, erste Orientierungshilfe für das, was man „Allgemeinwissen“ nennt. Die Möglichkeit zu einer ständigen Veränderung der Texte durch jeden, der sich dazu herausgefordert fühlt, macht sie leider zu einem unsicheren Informanten, weil eben auch 'verschlimmbessert' werden kann. Man muss schon Experte sein, um falsche Angaben festzustellen. WIKIPEDIA ist auch nicht quellenkritisch. Wenn Fachliteratur angeführt wird, ist es oft eine kleine Auswahl. Welchen Titeln die jeweiligen Informationen entnommen sind, weiß man nicht, anders als bei den inzwischen gerne totgesagten klassischen Enzyklopädien und Lexika. Deren Informationen haben den Wert historischer Dokumente, weil sie charakteristisch sind für die Entwicklungen und Anschauungen einer klar umrissenen Epoche. WIKIPEDIA kennt oft nur den „neuesten“ Stand. Der ist bei Vermeer im Laufe der Jahre wesentlich umfangreicher geworden (März 2015), reicht aber nicht über die gängigen wissenschaftlichen Schlagwörter hinaus. Dafür wimmelt es von Links, weil so viele Begriffe zu erklären sind.

Wer tiefer forschen will, mehr wissen möchte über den kulturhistorischen, den zeit- und religionsgeschichtlichen, den soziologischen und politischen Hintergrund seines Lebens und Schaffens, ist auf eigene Recherchen angewiesen, in den klassischen Büchern und in Bibliotheken. Doch auch dort hat man es nicht leicht. In der Kunstwissenschaft sind zur Zeit andere Trends Mode.

Trend und Event oder fragen, forschen, verstehen?
Wer »Malen«als eine aktive Auseinandersetzung mit der äußeren Welt versteht (wie es E. H. Gombrich formulierte), der wird Events wie „Museumsnächten“ oder Spielereien mit dem „Selfie – Stick“ wenig abgewinnen können. Viele (hoffentlich) werden nicht aufhören danach zu fragen, was in der Lebenszeit eines Künstlers wirklich vor sich ging, worauf es dem Künstler angekommen sein kann, auf welche Traditionen er zurückgriff. Klingt altmodisch – doch tröstlicherweise wechseln Moden. So bleibt als Trost: Auch das kunsthistorische Interesse und der Anspruch wissenschaftlich begründeter Analyse kann wieder Mode werden, anders als früher, aber immer in der Gewissheit, dass zu keinem Gegenstand schon alles gesagt wurde.
(E. H. Gombrich: Wahrheit und Illusion. In: Das Gombrich – Lesebuch. Ausgewählte Texte zu Kunst und Kultur. Hg. von Richard Woodfield. Dt. Phaidon Verlag, Berlin 2003, S. 107 f)
Darum also: Vermeer!